Mahler: Sinfonie Nr. 9

Mahler Symphonie Nr. 9

Anmerkungen zum Werk

Die neunte Sinfonie von Gustav Mahler wurde im Sommer 1909 in Toblach vollendet. Die Uraufführung fand im Juni 1912 in Wien unter der Leitung von Bruno Walter statt. Die neunte Sinfonie wurde – in Verbindung mit dem frühen Tod Mahlers am 18. Mai 1911 – schon bald als „Abschiedssymphonie“ rezipiert. Dabei wurde Mahler zugleich immer wieder die Vorausahnung seines Todes unterstellt, nicht zuletzt deshalb, weil große Komponisten wie Beethoven, Dvorak, Schubert und Bruckner ebenfalls nach der Vollendung ihrer „Neunten“ verstorben waren. Mahler war bezüglich dieser Frage selbst etwas abergläubig, deshalb hatte er der „Neunten“ noch das Lied von der Erde vorausgestellt. Tatsächlich konnte er seine „Zehnte“ nicht mehr vollenden. Andererseits muss man eingestehen, dass sich die Topoi „Tod“ und „Abschied“ auch in den vorangegangenen Werken Mahlers immer wieder finden lassen.

Das neue Werk löste im Gegensatz zur vorherigen (achten) Symphonie keine einhellige Begeisterung aus. Man war eher befremdet und wollte das Konzept einer derartigen Komposition neuartiger Musik noch nicht akzeptieren. So war auch die Kritik der „Neuen Zeitschrift für Musik“ vom Juli 1912 von einem bedeutenden Unverständnis gekennzeichnet: „Nach der achten Sinfonie muss man die neunte als argen Rückfall bezeichnen. Mehr denn je tritt das Eklektische der Musik hier in den Vordergrund. Abermals muss die Maßlosigkeit der technischen Mittel, die Häufung von Klangfarben, Tonmischungen beanstandet werden. Abermals Ekstase statt Kraft des Aufbaus, tonale Gewalttätigkeiten anstelle einer logischen und klaren Durchführung, und leider wiederum Banalität und gekünstelte Naivität, die für den Mangel an wahrhafter Innerlichkeit und natürliche Empfindung entschädigen soll“.

Komponisten wie Alban Berg oder Arnold Schönberg feierten die Sinfonie allerdings als Übergang zu einer neuen musikalischen Epoche, und heute gilt die 9. Symphonie von Gustav Mahler als Höhepunkt und Vollendung seines Gesamtwerkes.

Die Neunte ist ein Werk mit traditionell 4 Sätzen, das die Extreme meidet, keine Singstimmen verwendet, keine Herdenglocken oder Hammer. Zunächst fällt auf, dass dieser Symphonie keine der Grundtonarten zugeschrieben wurde, was (nach Adorno) als Indiz dafür angesehen werden kann, dass „dieses Werk das erste der neuen Musik“ sei. Auffällig ist zum Beispiel, dass in der IX. Symphonie die Satzfolge nicht mehr dem üblichen Schema „schnelle Ecksätze, ruhigere Binnensätze“ folgt. Auch die traditionelle Sonatensatzform (Exposition, Durchführung, Reprise) wird nicht mehr durchgehalten. Adorno wies ausdrücklich darauf hin, dass „das Gesetz der inneren Entwicklung“ nicht mehr erkennbar sei; es fehlen der „Dualismus der Themen, ihre prägnante Gegenüberstellung und die Durchführung im gewohnten Sinne“.

Mit einem Pianissimo des Cellos beginnt der erste Satz (Andante comodo) kaum wahrnehmbar, dazu ebenfalls wie ein Hauch das Horn. Danach spielt die Harfe ein Motiv im Forte, das dann von den Bratschen weitergeführt und zum Schluss dieses Satzes von tiefen Glocken herausgestellt wird. Im Verlauf des ersten Satzes tauchen viele kleine Motive auf, die permanent verändert und in unterschiedlichen Variationen wiederholt werden. Zu beachten ist eine Stelle der zweiten Violine, zu der Mahler am Ende des Satzes (Klarinetten: „zart hervortretend“) die Worte „Leb wohl“ schrieb. Eine besondere Rolle spielt in Mahlers Symphonien – so auch hier – das Horn, dessen Klang wehmütige Erinnerungen aufbringen soll (Mahler schrieb in der Partitur „O Jugendzeit! Entschwundene! O Liebe! Verwehte!“). Die Trompeteneinsätze bedeuten immer wieder einen Wechsel der unterschiedlichen Stimmungen, wobei zwischen mehr heiteren und düsteren variiert wird. Mahler verwendet dabei Bezeichnungen wie „zart gesungen, aber sehr hervortretend“ oder „Mit Wut“. So soll auch der Trauermarsch „mit höchster Gewalt“ vorgetragen werden. Das Ende des Satzes („molto espressivo – morendo – sehr zögernd – dolcissimo“) demonstriert die Abschiedsstimmung des Komponisten.

Der zweite Satz wurde ursprünglich von Mahler als Scherzo bezeichnet, später aber als Menuetto infinito deklariert. Der erste Tanz soll etwas „täppisch und sehr derb“ wie ein Ländler gespielt werden, wobei dieser wie auch die anderen Tänze dieses Satzes nur noch andeutungsweise ausgeführt wurden – es sind mehr Zitate von Musik, die im Gedächtnis verblieben ist. Es kommt nicht zu einer echten Heiterkeit, denn es werden auch unheimliche Untertöne angespielt. Die Fragmente der einzelnen Motive werden montageartig zusammengestellt, die Harmonien wirken letztlich abartig, dann aber tauchen wieder schöne Melodien auf. Durch die besondere Instrumentation kommt es zu grellen und brutalen Ausbrüchen, rhythmisch treten immer wieder Eigenarten hervor, die Adorno als „wüste Vulgarismen“ bezeichnete. Der 2. Satz endet mit einer vollständigen Zersplitterung seiner Bestandteile und dem Ende des vorangegangenen Spuks.

Während in den beiden ersten Sätzen die Grundregeln der Harmonie immer wieder in Frage gestellt wurden, ihre Verletzungen jedoch toleriert werden können, wird im dritten Satz mit der Bezeichnung Rondo-Burleske die Tonalität fast völlig aufgegeben; es ist der Übergang in die musikalische Moderne. Das Wort Burleske leitet sich vom italienischen Wort „Burla“ (Spaß) ab; so schieb Richard Strauss z. B. eine Burleske für Klavier und Orchester. Im Gegensatz hierzu handelt es sich im dritten Satz der Mahler-Symphonie um einen sehr bösartigen Spaß, und man erlebt einen wüst dahinstürmenden Wirbel. Das Rondo beginnt mit einem dissonanten Motiv in der Trompete, das immer wieder zurückkehrt. Ein überhetzter Marsch deutet auf eine Gesellschaft hin, die blind in den Abgrund stürzt. Das hektische Treiben wirkt oftmals chaotisch und dissonant. Adorno hat diesen Satz als „Mahlers einziges Virtuosenstück“ bezeichnet. Damit wird jedes Orchester vor höchste Anforderungen gestellt. Man hört immer wieder Trompetensignale, auch die Holzbläser setzen bestimmte Akzente in sehr kleinen Tonfolgen. Es wird somit schwieriger, den wechselnden Rhythmen folgen zu können. Dazwischen kommt es zu ruhigeren Momenten, auch ein Choral klingt an, die Katastrophe scheint jedoch nicht mehr aufhaltbar. In der hektischen Schlussstretta kehrt das Ausgangsmotiv zurück und endet in der musikalischen Zerstörung durch sich überstürzende Tonkaskaden.

Der vierte und letzte Satz trägt die Überschrift „Adagio“, – er hat den Charakter eines Abgesanges, und man fühlt sich zu Beginn an den letzten Satz von Mahlers 3. Symphonie (6. Satz) erinnert. Zu Beginn wird ein Doppelschlag herausgestellt, das Thema in verschiedenen Variationen wird auch als Drehfigur bezeichnet. Dieses Thema wird von den Streichern bis zum Fortissimo fortgeführt, und es folgt dann ein zweites Thema mit den höchsten Tönen der Geigen, begleitet von tiefen Instrumenten mit Kontrafagott, Cello und Kontrabass. Die Posaunen greifen die Doppelschlagthematik noch einmal auf. Es folgen Melodiebögen, die immer wieder unterbrochen, und teilweise erneut von unterschiedlichen Instrumenten aufgenommen werden. Es wird immer schwerer, den einzelnen Melodielinien zu folgen. Ein choralartiges Stück wird vom Horn vorgetragen und bildet zunächst einen gewissen Abschluss dieser Phase. Die Musik klingt dann immer trauriger. Der Schluss wird nur noch von den Streichern getragen – er hat die eigenartige Bezeichnung „Adagissimo“ mit “ppp“, dann „zögernd“ und letztlich „ersterbend“. Hier erweist sich das mit dieser Sinfonie verbundene, oft verwendete Wort „Abschied“ als gerechtfertigt.

Aus heutiger Sicht ist es etwas schwer nachzuvollziehen, welche Bedeutung diese Symphonie für die Weiterentwicklung der Musik ihrer Zeit hatte. Allerdings zeigt sich auch heute noch klar, dass in dieser Symphonie traditionelle Regeln aufgegeben oder umgekehrt wurden. Melodien wurden zum großen Teil nur noch angedeutet, immer wieder treten Motivfragmente hervor, die „wahllos“ miteinander kombiniert werden. Das Werk wurde nach der Uraufführung von vielen als „höchst merkwürdig“ bezeichnet. Von jetzt an mussten sich moderne Komponisten in diese Richtung bewegen, Schönberg, Berg, Webern u.a. haben das bewiesen. Alban Berg schreibt demgemäß auch 1912 an seine Frau: „Der erste Satz der IX. Mahler-Symphonie ist das Allerherrlichste, was Mahler geschrieben hat“.

Zur Vorbereitung auf die Aufführung durch das Orchester des Staatstheaters Darmstadt können viele Aufnahmen großer Dirigenten mit berühmten Orchestern dienen. Besonders empfehlenswert ist die Video-Aufnahme mit L. Bernstein und dem Wiener Philharmonischen Orchester, die auch bei „youtube“ abgerufen werden kann.

Literatur beim Verfasser

emw koch, September 2018

PS: In Anbetracht der großen Ansprüche, die die IX. Symphonie an Musiker und Hörer stellt, ergeben sich Zweifel an der Gestaltung des Programms zum ersten Sinfoniekonzert 2018/19 in Darmstadt, das noch Stücke von Mozart und Webern umfassen soll.