Leonard Bernstein

Leonard Bernstein 1918 – 1990

„Ich bin ein Komponist ernster Musik, der versucht, Songs zu schreiben“   – Leonard Bernstein 1954.

Am 25. August 2018 wurde weltweit des 100. Geburtstags von Leonard Bernstein gedacht. Leider hat das Orchester des Staatstheaters Darmstadt es nicht für nötig empfunden, eines seiner Werke in sein Programm 2018/2019 aufzunehmen. Für den Freundeskreis der Sinfoniekonzerte Darmstadt soll seiner mit Beiträgen gedacht werden, die sich auf sein gesamtes Lebenswerk beziehen.

Leonard Bernstein war ein US-amerikanischer Komponist, Dirigent, Autor, Musikdozent und Pianist. Er gehörte zu den ersten Dirigenten, die in den USA geboren und ausgebildet wurden und die weltweite Anerkennung erhalten haben. Seinen Ruhm verdankt er auf der einen Seite seiner langjährigen Tätigkeit als Musikdirektor des New York Philharmonic und seiner Leitung von Konzerten mit den meisten führenden Orchestern der Welt und zum anderen einem Teil seiner Kompositionen, auf die zunächst eingegangen werden soll.

Bernstein hat mehr als fünfzig Werke komponiert, darunter 3 Sinfonien, eine sinfonische Suite, zwei Orchesterkompositionen, vier Ballettstücke, eine Operette (basierend auf Voltaires „Candide“), Kammermusik sowie die 3 Musicals, die entscheidend zu seinem Ruhm beigetragen haben: „On the Town“ 1944, „Wonderful Town“ 1953 und „West Side Story“ 1957. Dazu kamen die Kurzoper „Trouble in Tahiti“, 3 Zyklen  für Klavier („Universaries“), aber auch einzelne Lieder und Chorlieder im Sinne von liturgischen Synagogalkompositionen. Erwähnt werden sollte auch der Zyklus von „Five Kid Songs“ („I hate Music“). Als beachtenswert muss seine Begleitmusik zu dem Film „On the Waterfront – Die Faust im Nacken“ bezeichnet werden. Da das sinfonisch konzipierte Werk (1955) bei der Filmherstellung gekürzt wurde, stellte er aus dem gesamten Material eine zusammenhängende sinfonische Suite zusammen, die trotzdem der Dramatik der Filmhandlung entspricht.

Thematisch enthalten praktisch alle Werke – auch die heitersten – Stellen von Trauer, Zweifel, Depression und Einsamkeit. Seine zweite Sinfonie z. B. beruht auf Audens Dichtung „ Zeitalter der Angst“, und „Candide“ enthält sehr viel Bitterkeit, mit der Lebensart und Philosophie der damaligen (und auch heutigen) Gesellschaft angegriffen werden. Das Musical „West Side Story“ endet ebenso tragisch wie sein Vorbild „Romeo und Julia“ von Shakespeare. In der 3. Sinfonie „Kaddisch“ wird die Glaubenskrise des Menschen charakterisiert. Als Bernstein das tröstliche Amen-Finale orchestrierte, erreichte ihn die Nachricht von Kennedys Ermordung, und er widmete diese Sinfonie dem Andenken des Präsidenten.

Auch die  Messe „MASS;  A Theatre Piece for Singers, Players, and Dancers“ nimmt das Thema von „Kaddisch“ wieder auf. Es wird  eine Art Gottesdienst zelebriert, bei dem einiges außer Kontrolle gerät. Bei der katholischen Messe kommt es zu tiefen Lebens- und Glaubenskrisen des Priesters und der Gemeindemitglieder.

Der Musikstil ändert sich bei Bernstein ständig, und es kommen viele Stile des 20. Jahrhunderts vor: Jazz, Blues, Rock, Broadwaystil, Expressionismus und Zwölftontechnik. In den “Harvard-Vorlesungen“ thematisiert er „die offene Frage“ nach Tonalität und nach ihrer Verneinung theoretisch, und auch in seiner Musik  stellt er diese „offene Frage“ immer wieder zur Diskussion. Dabei wechseln melodische und harmonische Themen im Gegensatz zu freier Tonalität.

Selbstverständlich ließ er sich durch große klassische oder romantische Werke beeinflussen. Die Musik von Bernstein enthält aber immer wieder sehr individuelle Ausdrucksformen, die sich der von ihm selbst gestellten Thematik anpassen.

Unter diesem Aspekt hat er auch – z. B. in der „Kaddisch“-Sinfonie – einen Text selbst so konzipiert, dass er der musikalischen Form entsprechen konnte. In diesem Sinne hat er auch selbst beschrieben, dass seine sinfonischen Werke im Grunde eine Idee enthalten, die außerhalb des Musikalischen liegt, die aber dann den musikalischen Aufbau bestimmt. Wie vielseitig und mit welchem hohen Bildungsniveau er dabei vorging, zeigt sich in der „Serenade“, in der er (nach seinen Worten) die Verwandtschaft der Sätze mit jeweils dominierender Violine darauf bezieht, dass diese Sätze nacheinander aus den Elementen des vorherigen entwickelt wurden. Als Grundidee wurde „Das Symposium“ von Platon verwendet, und dieser Musik „liegt kein literarisches Programm zugrunde“, aber es soll wie die Dialoge bei dem griechischen Philosophen Aussagen zum Lob der Liebe darstellen.

Auch im „Songfest“ greift Bernstein auf literarische Vorlagen zurück; es ist ein Songfest für 6 Sänger, ein Zyklus amerikanischer Gedichte aus 3 Jahrhunderten (u.a. Gertrude Stein, Edgar Allen Poe, Walt Whitman). Es werden unterschiedliche Aspekte von Liebe, Rasse, Dichtung behandelt. Das Werk wurde 1977 aufgeführt und wurde der Jahrhundertfeier des Bostoner Sinfonieorchesters gewidmet.

„Ein Gefühl für Theatralik in seiner Musik“ hat er selbst zugegeben: „Ich habe einen tiefen Verdacht, das jedes Werk, das ich schreibe, in irgendeiner Weise Theatermusik ist“ (1949). So war er auch immer wieder bemüht, eine Fortsetzung seines Jugendwerkes „Trouble in Tahiti“ zu komponieren. 1983 wurde  „A Quiet Place“ in Houston uraufgeführt, das in der gleichen Vorstadtsiedlung „Suburbia“ spielt wie sein Vorgänger. Da die dramatischen Abläufe dieses Werks nicht sehr überzeugten und auch der (musikalische) Bezug zu dem 30 Jahre zuvor komponierten Werk nicht eindeutig erschien, wurde eine neue Fassung erarbeitet, in der beide Werke miteinander verknüpft wurden (1984).

So ist auch „Race to Urga“ ein Musiktheaterstück, das 1968 als Adaption des Bertolt-Brecht-Stücks „Die Ausnahme und die Regel“ entstand. Das Thema von Brechts Stück war die Ausbeutung der Arbeiterklasse durch den Kapitalismus in den 1930er Jahren. Die Show wurde nie fertiggestellt, aber im April-Mai 1987 wurde eine Workshop-Produktion im Lincoln Center präsentiert. Regie und Choreografie waren Jerome Robbins anvertraut.

In dem Ballett „Dybbuk“ verwendete Bernstein die kabbalistische Tradition, nach der jeder Buchstabe des hebräischen Alphabets seinen eigenen numerischen Wert aufweist. Der Name der weiblichen Hauptrolle in Dybbuk, Leah, ist gleich dem numerischen Wert von sechsunddreißig. Bernstein konzentrierte seine Komposition auf die Divisionen von sechsunddreißig und achtzehn (der Zahlenwert des hebräischen Wortes Chai, was „Leben“ bedeutet), und so wird jedes Vielfache der Neun – die Anzahl der Noten einschließlich der Wiederholung der Kopfnote – in einer symmetrischen Oktatonskala dargestellt. Es wird als seine aktuell strengste Partitur bezeichnet, da seine Beschäftigung mit der Numerologie zu viel härterer dissonanter Musik (manchmal 12-Ton) führte als in jedem anderen seiner Arbeiten.

In der „Missa Brevis“ von Leonard Bernstein wurden ausgewählte Messe-Texte für einen gemischten A-cappella-Chor mit Countertenor-Solo und Perkussion ausgewählt. Es ist Bernsteins letztes vollständiges Chorwerk (1989) kurz vor seinem Tode 1990. Der Ursprung des Stückes liegt in der Chormusik, die Bernstein für eine Adaption von Jean Anouilhs Theaterstück „Die Lerche“ 1955 komponierte Die Handlung des Stücks umfasst die Ereignisse rund um Jeanne d’Arc und ihren Prozess. 33 Jahre später vollendete er Missa Brevis. Das Werk verdient Aufmerksamkeit, da es im Vergleich zu Bernsteins anderen Chorwerken eine Mischung aus Mittelalter und Renaissance umfasst. Er versuchte damit etwas Neues oder Anderes. Der Kontrapunkt in Missa Brevis wurde als exzellent beschrieben. Es wurde vom American Record Guide als „kompaktes Juwel“ bezeichnet.

Bernstein stellte den vielfach beschworenen Untergang der Musik infrage („Von der unendlichen Vielfalt der Musik“, 1966) und prophezeite visionär das Aufkommen von anderen und freien Ideen, die zu einer neuen Tonalität führen würden, so dass die Musik überleben kann. Dabei ist seine Musik geprägt von Moderne und von „Nostalgie“, und die Einflüsse anderer Komponisten aus vorangegangener Zeit können nicht abgestritten werden.

Insgesamt hat Bernstein die amerikanische Musik des vergangenen Jahrhunderts entscheidend mitgeprägt. In seinen Kompositionen verwendet er auch immer unterschiedliche Charaktere der Tonarten; teilweise sind sie diatonisch, chromatisch oder auch dodekaphonisch, wobei stets eine tonale Auflösung gesucht wird. Sein Rhythmusgefühl ist immer wieder durch den Jazz bestimmt.

Einmal vorgestellte Motive werden in den Sinfonien nicht nur wiederholt bzw. umgestellt, auf unterschiedliche Instrumente – auch als Splitter – verteilt und umgekehrt, sondern sie werden auch erweitert und zeigen damit einen neuen Charakter, wobei die häufig verwendete rhythmische Verschiebung die Originalmelodie kaum noch erkennen lässt. Auch die Instrumentation spielt in der Entwicklung der Themen und ihrer Darstellung eine große Rolle. Gegenüberstellungen von Soli und Orchester oder Gesang können in den Sinfonien immer wieder registriert werden. Bernstein selbst hat mehrfach dargestellt, dass „seine Werke von jenem Kampf handeln, der aus der Krise unseres Jahrhunderts, einer Krise des Glaubens, erwächst“.

Leonard Bernstein starb am 14. Oktober 1990 in New York. Sein Gesamtwerk jedoch wirkt in vieler Hinsicht weiter. Einerseits versuchte er, Musik durch Analyse verständlich zu machen, andererseits war sein Verhältnis zur Musik oft rein intuitiv. Sein Ziel war es, Klang erlebbar machen, so dass sich individuelle Widersprüche im Leben als Auseinandersetzungen in der Musik wieder spiegelten. Bernsteins Kunst bestand nicht nur im Dirigieren und Komponieren, sondern auch im Vermitteln seiner Ideen an ein großes Publikum, und er schaffte es, viele Menschen zu erreichen, die sich sonst für die Musik wenig interessiert hätten.

Eine große Anzahl von Aufnahmen erlaubt es uns, sich mit dem bedeutenden Werk von Bernstein vertraut zu machen, und es bleibt zu hoffen, dass auch das Orchester des Staatstheaters Darmstadt sich einmal seiner Kompositionen annimmt.

emw koch, August 2018

Literatur beim Verfasser