Azio Corghi: CRUCIVERBA

Ergänzend zum „Requiem“ von Verdi wird im ersten Teil des 5. Sinfoniekonzerts des Staatsorchesters Darmstadt „Cruciverba“ des italienischen Komponisten Azio Corghi (*1937) vorgestellt. Es ist ein Stück für kleines Orchester mit von einer weiblichen Stimme gesprochenen Rezitativen.

Azio Corghi studierte zunächst Musik und Malerei. Später ging er nach Mailand und studierte am dortigen Konservatorium Komposition und Dirigieren. Als Komponist wurde er vor allem durch seine Opern – hauptsächlich in Italien, weniger in Deutschland – bekannt. Seine Oper „Blimunda“ nach einem Werk des portugiesischen Nobelpreisträgers J. Saramago und in Zusammenarbeit mit ihm wurde 1989 in Mailand uraufgeführt. 1993 folgte das musikalische Drama „Divara“ („Wasser und Blut“) in Münster. Im Auftrag der Scala schrieb er die Oper „Tatjana“ nach Anton Tschechow. 2009 erfolgte die Uraufführung seiner Auftragsoper  „Giocasta“ nach Sophokles.

GMD Will Humburg hat bereits oft – auch schon in seiner Zeit in Münster – mit Corghi zusammengearbeitet und mehrere seiner Werke aufgeführt. Herr Humburg erklärte sich in dankenswerter Weise bereit, einige Fragen zum Komponisten und zum Werk als Grundlage für diese Ausführungen zu beantworten.

In „Cruciverba“ verknüpfte Corghi „Das Evangelium nach Christus“ José Saramago (1922-2010) aus dem Jahr 1992 mit der Orchesterbearbeitung eines Klavierwerks von Liszt (1811-1886): „Via Crucis“ aus den Jahren 1878 -1879. Es ist eines der letzten Werke des großen Komponisten. „Via Crucis“ beschreibt die 14 Stationen des Kreuzwegs. Es war ursprünglich für Orgelbegleitung verfasst. Das Werk vereint einstimmige Gesänge mit lutherischen Chorälen ebenso wie Choräle nach Bach. Beachtenswert ist, dass Liszt hier bis an die Grenzen der bis dahin vorherrschenden Tonalität ging. Es beginnt mit der Verurteilung durch Pilatus. Es folgen danach die bekannten Szenen wie die Stürze Jesus, das Treffen mit Maria, Veronicas Schweißabwischen, die Kreuzigung, Jesus Tod und seine Grablegung.

Demgegenüber muss „Das Evangelium nach Jesus Christus“ von Saramago als ein sehr umstrittenes Werk angesehen werden, von dem sich viele Katholiken zunächst verletzt fühlten und das sofort auf den Index gesetzt wurde. Saramago beschreibt einen sehr menschlichen Jesus mit abweichenden Gedanken und Fehlern. Dieser Jesus wurde biologisch gezeugt, wuchs jüdisch und gläubig auf, verließ im Streit seine Familie, verliebte sich und wollte sein Leben führen, bis Gott ihm einen anderen Weg zeigte, den er gehen sollte. Er erfährt erst sehr spät von dem Versuch, Gottes Plan zu erfüllen, und er sträubt sich dagegen.

Es kommt so weit, dass  Gott Jesus erklärt, dass dieser eigentlich nur sein „PR-Gag“ sei, um endlich mehr Gläubige gegenüber den anderen Göttern zu gewinnen. Hinzu kommt, dass er dabei Hilfe von seinem Zwilling, dem Teufel, erhält, der zeitweise auch noch vernünftiger dargestellt wird als Gott. Saramago lässt Christus am Kreuz sagen „Menschen, vergebt IHM, denn ER weiß nicht, was ER tut“.

Herr Humburg möchte mit diesem Werk auch an den Aufruf Saramagos nach dem 11. September erinnern: „Hören wir doch endlich auf, Morde im Namen irgendeines Gottes zu begehen! Die schlimmsten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte sind im Namen eines Gottes begangen worden.“ In seiner Oper über die Wiedertäufer lässt der Atheist Saramago seinen Protagonisten sagen: „Ich werde abschwören allen Übels, das im Namen des Glaubens getan wurde, aber ich werde niemals meinen Glauben abschwören, denn ohne Glauben ist der Mensch ein Nichts.“

Azio Corghi hat in einigen Notizen erläutert, dass die „Vertikalität“ des Via-Crucis-Programms (Liszt) mit der „Horizontalität“ der Lesung des Saramagischen Textes kontrastiert, was zur Wahl des Titels „Cruciverba“ (Kreuzwort-“Rätsel“) führte, wodurch sich viele Interpretationsmöglichkeiten ableiten lassen. Ein Prelude stellt die vierzehn Stationen vor, die zu Liszts Klavierkomposition gehören; sie begrenzen die Abfolge von rezitierten und instrumentellen Interventionen. Lesen und Kommentieren gehen getrennt vor, und es ergeben sich daraus starke Gegensätze. Es wird dialektisch vorgegangen – Lesen und Kommentieren, Stimme und Orchester. Gegensätze ergeben sich durch die Texte des „Atheisten“ Saramago und der Musik des „Abbé“ Liszt. Corghi erklärt, dass sein „Re-Reading“ von der freien Transkription für Orchester der originalen Klavierkomposition bis hin zur Einbeziehung eigener Themen geht und so die Geschichte musikalisch wiederbelebt wird – die Musik soll als Metapher für das gelten, was im täglichen Leben geschieht. Die provokativen Interferenzen des Christusbildes werden ins Humane übertragen.

Die Aufführung wird etwa 20 Minuten dauern. Interessierte können einen Eindruck erhalten, wenn sie im Internet unter „YouTube“ das Werk aufrufen. Es kann ein Ausschnitt einer Aufführung des Orchesters und des Chores della Svizzera italiana angeschaut werden.

 

EMW Koch 6.3.2018