Giuseppe Verdi: REQUIEM

Zum 5. Sinfoniekonzert – März 2018

 

Für viele Musikfreunde ist Verdi mit Musik verbunden, die sich durch einen unvergleichlichen Wiedererkennungswert auszeichnet. Das gilt vor allem für seine frühen Opern mit „Ohrwürmern“ wie „La donna è mobile” (Rigoletto), “Va pensiero” (Nabucco) oder „Di quella pira“ (Troubadour). Diese eingeschliffenen Hörerwartungen des Publikums wurden in den späteren Werken nicht mehr im gleichen Maße erfüllt. Wir haben es bei der letzten Premiere des „Simon Boccanegra“ im Staatstheater erlebt, wie sehr Verdi einen Spätstil entwickelt hatte und wie sehr das alte Nummernschema zugunsten eines durchkomponierten Zusammenhangs aufgegeben wurde. Verdi hatte die italienische Operntradition erfüllt und gleichsam überwunden, ohne dass er jedoch auf direkte Reformen abzielte. Der Hinweis des GMD „Hören Sie nicht auf diese Musik“, den er vor der von ihm geleiteten Premiere veröffentlichen ließ, scheint allerdings etwas eigenartig   –  zugegeben werden soll aber, dass Verdi gerade in dieser Oper seine politische Einstellung hinsichtlich der Überwindung des italienischen Partikularismus herausstellte, nicht zuletzt durch das Zitieren der Petrarca-Briefe.

Es gehörte im 19. Jahrhundert zur Tradition, dass ein Komponist irgendwann auch ein geistliches Werk (Messe) komponieren musste. Der Begriff Messe findet allerdings vielseitige Interpretationen. Zunächst bedeutet Messe Gottesdienst in der katholischen Kirche. In der Musik versteht man unter Messe eine Vertonung der Messliturgie. Auch ein Jahrmarkt wird als Messe bezeichnet, genau wie eine Warenschau oder der Speiseraum auf einem Schiff.

Allerdings verfiel die große liturgische Tradition der Messen des 17. und des 18. Jahrhunderts zu Beginn des 19. Jahrhunderts, und bereits zu Verdis Jugendzeit dominierten Messen mit opernhaften Arien, wie sie u.a. auch von Bellini oder Donizetti verfasst wurden. Die Strenge der traditionellen Requiem-Vertonungen wurde immer mehr durch Erweiterungen orchestraler und/oder vokaler Gestaltungen verändert.

Als Requiem wird die Messe für die Verstorbenen (Missa pro defunctis) bezeichnet, und man versteht darunter sowohl die Liturgie der heiligen Messe bei einer Begräbnisfeier als auch Kompositionen mit liturgischen Texten zum Totengedenken. Diese Musikstücke beginnen mit „Requiem aeternam dona eis, Domine“ (Schenke ihnen ewige Ruhe, Herr). In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass im 19. Jh. die Messe teilweise um weitere Abschnitte erweitert wurde (z. B. „Dies irae“), so dass sich die eigentliche Kirchenmusik mehr und mehr in eine romantische Sinfonie oder in eine „Große Oper“ wandelte. Die opernkompositorische Vorgehensweise von Verdi zeigt sich auch darin, dass er das klassische Latein des Textes in den Rhythmus des italienischen Theaters übersetzte. Er verwendete jetzt die Stilrichtung seiner späteren Werke wie „Don Carlos“ oder „Macht des Schicksals“.

Das Requiem des inzwischen 60-jährigen Verdi gehört nun zu den am meisten aufgeführten Messen dieser Art, und man muss sich beim Anhören schon bewusst sein, dass die starke Wirkung dieses leidenschaftlichen Werkes mehr durch seine freie künstlerische Form eines Opernkomponisten erreicht wird als durch eine liturgisch festgelegte Vorschrift. Dass das Requiem unmittelbar nach der „Aida“ komponiert wurde, lässt sich kaum überhören. Allerdings sollte mit dem Requiem auch das Schaffen Manzonis, der sich literarisch sehr um die Freiheit und Einheit seines Vaterlandes (Risorgimento) bemüht hatte, im Sinne des Humanismus gewürdigt werden.

Die Entstehungsgeschichte des Requiems von Verdi ist mit dem Tod von zwei großen Künstlern seines Landes verbunden. 1868 starb Gioachino Rossini (*1792), und Verdi regte an, dass 12 weitere Komponisten sich an der Gemeinschaftskomposition einer Totenmesse für Rossini beteiligen sollten. Das Werk sollte zum Gedenken ein Jahr nach Rossinis Tode aufgeführt werden. Aus unterschiedlichen Gründen konnte das Werk nicht vollendet und auch nicht aufgeführt werden. Verdi hatte als eigenen Beitrag das abschließende „Libera me“ komponiert, das er dann für die Komposition seines von ihm selbst vollständig erstellten Werkes verwendete. Die Fertigstellung seines Requiems musste aber wegen der Auftragsarbeit an der „Aida“ zur Eröffnung des Suezkanals zurückgestellt werden.

Als im März 1873 der von Verdi sehr geschätzte große italienische Dichter Alessandro Manzoni  (*1785; I promessi sposi) starb, stellte er das bereits konzipierte Werk fertig, das dann am ersten Jahrestag des Todes von Manzoni in San Marco in Mailand (1874) uraufgeführt wurde. Diese Totenmesse ist für 4 Solisten, Chor und Orchester komponiert; beachtenswert ist die externe Aufstellung von vier Trompeten.

1877 dirigierte Verdi das Requiem auf dem Niederrheinischen Musikfest in Köln, und der große Erfolg dieser Aufführung war mit einer weitgehenden Achtung des Komponisten auch jenseits der Alpen verbunden, wo man bisher nur einen Teil seiner Opern kannte.

Das Requiem von Verdi bildete somit einen Gipfel liturgischer Musik im 19.Jahrhundert und hält jeden Vergleich mit der Missa Solemnis von Beethoven oder mit den späten Haydn-Messen stand.

Im Requiem kommen alle musikalischen Mittel zusammen, die Verdi als Komponist von bisher mehr als 25 Opern entwickelt hatte. Hier konnte er alles konzertant zusammenfassen, ohne dass auf eine vorgegebene Bühnenhandlung Rücksicht genommen werden musste.

Die Orchesterbesetzung entspricht der des „Don Carlos“ in der 5-aktigen Fassung von 1867, u. a. mit 4 Fagotten und einer Ophikleide (ein Blechblasinstrument aus der Familie der Klappenhörner, mit Klappen und nach oben gerichtetem Schalltrichter).

Das Werk beginnt in völliger Ruhe mit einer gedämpften Cello-Melodie, und es folgt ein Abschnitt mit Chor, der die Furcht vor dem Tode und die Trauer um die Verstorbenen eindrücklich charakterisiert. Aber auch Hoffnung („lux perpetua“) wird angedeutet. Mit dem Kyrie kommt eine starke Bewegung ins Orchester, und die Solisten treten besonders – beinahe schon opernhaft – hervor. Später zeigt sich der Chor wieder gleichberechtigt mit den Solisten, und das Ganze endet dann mit dem „Christe eleison“.

Danach bricht das „Dies irae“ mit starker Gewalt los – es ist der längste und anspruchsvollste Teil des Requiems (40 Minuten). Gewaltsame chromatische Wendungen mit Sechszehntel-passagen wirken wie eine wütende Raserei. Es wird zunächst ein überirdisches Gewitter durch rasende Tonleitern mit Gegenbewegung dargestellt, dazu kommen Tutti-Schläge wie Donner, und die Chorszenen erinnern an die Sturmmusik aus dem bedeutend später komponierten „Otello“. Die Musik verändert sich, und es entsteht eine angstbeladene Szene („Quantus tremor est futurus) mit Paukenschlägen als Zeichen eines schweren Schicksals. Das Jüngste Gericht wird durch die 4 Trompeten hinter der Kulisse mit dissonanten Ausbrüchen angedeutet, indem es langsam näher kommt. Der Solo-Bassist beginnt mit „Tuba mirum“, und es ertönen Blech-Fanfaren zur Unterstützung. Der Tod („Mors“) verbreitet Schrecken und Grauen – auch hier wird man an „Otello“ erinnert (Credo des Jago). Man sollte darauf achten, wie die unterschiedlichen Soloinstrumente auf die gesungenen Worte mit Flehen und Bitten eingehen.

Ganz im Unterschied dazu beginnt das Alt-Solo („Liber scriptus“) beinahe schon wie eine gefühlsvolle Opernarie des späten Verdi, aber der Text warnt vor der Strafe durch den Richter, was musikalisch dann auch in der zweiten Periode dieses Solos („Judex ergo“ ) dargestellt wird. Der Chor flüstert das „Dies irae“ dazwischen, und es kommt zu dem verzweifelten, mehrfach wiederholten „nil“ (nichts); vor der Strafe kann man nicht flüchten. Der Chor übernimmt erneut die Mahnung „Dies irae“, aber mit starker Pointierung, worauf ein Terzett folgt, in dem die Frage nach einer möglichen Gnade gestellt wird. Interessant ist hierbei die Untermalung durch die 4 Fagott-Sequenzen, was Verdi auch in der Oper bereits verwendet hat. Die Bitte um Gnade („Salva me“) wird vom Solo-Bass begonnen, dann von den anderen Solisten aufgenommen, und der harmonische Abschluss deutet an, dass die Furcht beendet werden kann – auch hier klingt die große Oper immer wieder durch. Das folgende Duett der beiden Frauenstimmen („Recordare“) vermittelt nach den stürmischen Szenen mit furchterregenden Drohungen eine große Ruhe, wenn auch die oberen Holzbläser wieder auf die Bitte („Salva me“) hinweisen. Das Tenor-Solo („Ingemisco“) mit seinem Verzweiflungsausbruch könnte ohne weiteres als Arie in der „Macht des Schicksals“ oder im „Don Carlos“ eingefügt sein, allerdings bietet der Hinweis auf die Erlösung von Maria Hoffnung, welche die Opernhelden nicht zu erwarten haben. Noch einmal tritt der Bass hervor („Confutatis“) und deutet abweisende Härte, aber auch flehentliche Bitten an, was sehr lyrisch vorgetragen wird. Vorher werden wir an die „Guerra“-Schreie aus „Aida“ erinnert und auch der Abschluss des Solos hat gewisse Ähnlichkeiten mit einer Stelle aus dieser Oper.

Schließlich   – unmittelbar nach dem Ende des Bass-Solos wird „Dies irae“ zitiert, und der zweite Teil des Requiems endet mit „Lacrimosa“, einer Melodie, die ursprünglich für „Don Carlos“ komponiert worden war. Es ist untermalt von einer sehr düsteren Orchestrierung und weist auf Schmerz und Qualen hin. Auf den Text „Pie Deus, Domine“ singen die Solisten eine eindringliche Melodie, das Orchester beruhigt sich und „Dies irae“ endet mit einem ergreifenden „Amen“. 

Im Offertorio wird von den  Solisten eindrucksvoll um Befreiung aus dem Rachen des Löwen und aus der Hölle gebetet. Eingeleitet wird dieser Teil von einem Motiv, das ein Solocello vorträgt und das immer wieder auch bei den übrigen Soloinstrumenten auftaucht. Es wird auf die Verheißung Abrahams hingewiesen, dass der Erzengel Michael die Seelen zum ewigen Licht begleiten soll. Die Gesangstimmen wechseln sich in der Kantilene immer wieder ab. Der Sopran bestimmt den Abschluss, während die übrigen Solisten ihr Gebet nur sehr leise – quasi murmelnd – vortragen („facias die morte…“).

Danach beginnt das Sanctus mit Trompetenfanfaren und mit Sanctus-Rufe durch den geteilten Chor. Der gesamte Satz „Sanctus – Benedictus –Hosianna“ deutet Leben, Aufstieg ins Licht an und führt zu einem brillanten Ende.

Im Agnus Dei beginnen die beiden Solistinnen mit einer Melodie, die im Oktav-Abstand gesungen wird – die Instrumentierung erweckt dann besondere Aufmerksamkeit, wie sie den einstimmigen Chor unterstützt. Nachfolgend –im Lux aeterna – beten Mezzo, Tenor und Bass,  wobei sich in der musikalischen Darstellung immer wieder Angst andeutet. Trost bietet dann eine langausgesungene Phrase der Mezzo-Sopranistin, die durch Flöte und Violine unterstützt wird.

Im Libera me wird von der Sopranistin mehr als 20x auf einem Ton gefleht, gefolgt vom Chor, auch lange auf einem Ton. Danach kommen beim Solo („Tremens factus“) Erinnerungen an Opernszenen von Verdi auf; ähnliche Angstausbrüche zeigt z. B. Leonore in der „Macht des Schicksals“. Noch einmal bricht das „Dies irae“ herein, ein absoluter Höhepunkt und stärker noch als im vorangegangenen Teil des Requiems.

Chor und Sopran stimmen dann das „Requiem aeternam“ an. Zwar wird die Sopranstimme bis zum hohen C geführt, aber das Requiem endet nicht in einem strahlenden, erlösenden C-Dur. Es bleibt ein einstimmiges Gebet des Soprans („Libera me…“) und der Chor schließt das Requiem mit „Requiem aeternam dona eis, Domine et lus perpetua luceat eis“ (Ewige Ruhe gib ihnen, Herr, und ewiges Licht leuchte ihnen).

Die Aussicht auf den Tod ist konfrontiert mit widersprüchlichen Verheißungen von Schrecken und Trost.

 

EMW Koch, 4.3.2018 Die Ausführungen zum Werk wurden anhand des Klavierauszugs (Edition Peters) erarbeitet, wobei Literaturstellen von Pizetti, D. Rosen und J. Budden verwendet wurden.